Draußen hell und innen dunkel?
Draußen hell und innen dunkel?
Gibt es ihn eigentlich überhaupt noch – den „Bildungsbürger“, der selbst im Halbschlaf fehlerfrei Goethes „Osterspaziergang“ deklamieren kann? Sie wissen schon: „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche, durch des Frühlings holden, belebenden Blick …“ Weiter als bis zur ersten Zeile kommt in den Generationen der nach 1960 Geborenen kaum noch jemand. Eigentlich schade, denn die gute Frühlingslaune mit etwas Kulturgut zu begründen, macht nicht nur Eindruck bei Freunden, Kollegen oder Familienmitgliedern, sondern stärkt auch das eigene Ego.
Vor allen Dingen lässt es der Dichterfürst nicht bei diesen beiden Zeilen bewenden. Gleich die nächsten erklären schon, was der Frühling noch so mit sich bringt: „Im Tale grünet Hoffnungs-Glück; der alte Winter, in seiner Schwäche, zog sich in raue Berge zurück.“ Frühling ist Hoffnung, Winter das Vergehen. Allein: Schön wär’s!
Denn nicht jeder Frühling bedeutet für alle Menschen Hoffnung: Er kann auch eine Zeit sein, die dunkler ist, als es der kälteste Winter sein könnte. Wenn Hoffnungslosigkeit und Trauer den Frühling überschatten, weil ein geliebter Mensch verstorben ist, helfen die ersten wärmenden Sonnenstrahlen kaum gegen die Dunkelheit im Herzen.
Es der Natur gleichzutun und neue Kraft zu schöpfen, ist ein Prozess, der Zeit benötigt. Psychologen erklären, dass Trauerbewältigung individuell verschieden abläuft. Manche Menschen vollziehen diesen Schritt leichter und schneller, für andere ist die Zeit fast endlos. Hilfestellung durch Bücher, Trauergesprächsgruppen oder professionelle Trauerhelfer vermitteln alle Bestattungsunternehmen gern. Aber auch viele Krankenkassen sind Ansprechpartner für Hinterbliebene. Auf solche Unterstützungsangebote zurückzugreifen, ist kein Zeichen von Schwäche, sondern im Gegenteil ein Ausdruck rationaler Entscheidungsstärke: Denn so wie die Sonnenstrahlen dem Körper wohltun, braucht auch die Seele etwas Wärme.
Bild: Adobe Stock #508215783 von Prashant